Fanny, geboren am 01. Juli 1903 war das erstgeborene Kind von Theodor Erzer (Tierarzt) und der Paulina Bouillat. Sie hatte die Geschwister Hans, Louise Berthile und Lilly. Ihre Grosseltern Theodor Erzer und Maria Anna Wiggli bauten den Gasthof Rössli. Damals war es ein Bauernbetrieb, noch ohne Metzgerei. Theodor war auch noch als Lehrer in der Schule Seewen tätig. Später wirtete der Sohn Leo weiter. Er blieb ledig und widmete sich mit seinem Pferd Nixe der Sportreiterei. Er konnte national und international grosse Erfolge feiern und schöne Preise gewinnen. Fanny arbeitete als Telefonistin an verschiedenen Orten. Im Jahre 1929 heiratete sie Max Bernet. Sie lebten in Zuzwil SG.
Fanny, ein quirliges, heiteres Mädchen verbrachte seine Jugendzeit als Veterinärstochter bevorzugt bei ihren Grosseltern und ihrem Onkel im Rössli wo immer etwas los war und sie sich ausgiebig ausleben konnte. Dass sie das sehr geschätzt hat beweist sie mit ihren wunderbaren Geschichten die sie in ihren Jugendjahren erlebt hat und vor ca. 80 Jahren für einige Jahrgänge des Schwarzbubenkalenders niedergeschrieben hat.
An dieser Stelle möchte ich die zusammengeführten Geschichten von Fanny Bernet-Erzer mit grosser Dankbarkeit wiedergeben als Bestandteil der Seebner Geschichte und um an eine wunderbare und andere Zeit und eine liebe Person in unserem kleinen Dorf Seewen zu erinnern.
1. Fünf Vaterunser für einen Gummiball mit dem Schweizerkreuz
Als ich etwa 7 Jahre alt war, hatte ich beim Hofermarie, das ein kleines Mercerielädeli führte, einen prächtigen roten Gummiball mit dem Schweizerkreuz gesehen. Diesen zu besitzen war mein sehnlichster Wunsch. Aber, er kostete sieben Batzen. Das schien mir damals ein Vermögen. Alles Betteln bei der Mutter und der Grossmutter half nichts. Immer wieder bekam ich die gleiche Antwort: „Du folgisch z’weni“. Da gab es nichts anderes, als mich an den Grossvater heranzu machen, der hatte ein so gutes Herz und würde mir gewiss die Bitte nicht abschlagen. Aber oh weh. Heute langte er nicht so schnell ins Giletttäschli wie sonst, um mir ein Geldstücklein zu reichen. Da hiess es: „Siebe Batze, das ist viel, das chunt eim nit zum Chemmi y. das muess zerscht verdient sy“. Der Grossvater hatte an jenem Tag starke Schmerzen in seinen lahm gewordenen Beinen, deshalb bat er mich, schnell in die Kirche hinauf zu gehen, um fünf Vaterunser für ihn zu beten, dass ihm der liebe Gott Erleichterung schicke. Kaum konnte ich den Moment erwarten, der mich in den Besitz des Balles bringen sollte. Ich rannte voll Freude davon, um den Auftrag auszuführen. Fünf Vaterunser – das ging viel zu lange für meine Ungeduld. Beim Gotteshaus war alles still und Menschenleer. Statt hinein zu gehen kniete ich nur auf die Steintreppe und leierte schnell drei Vaterunser herunter. Dann sprang ich nach Hause. Meine Gewissensbisse beschwichtigte ich mit dem Gedanken , der Grossvater werde doch nichts merken. Mein rasches Zurückkommen war ihm doch aufgefallen. Er schaute mich durchdringlich an und meinte: „Los Ching, i glaube du hesch nid feufi bättet und bisch dänk gar nit in der Chilche gsi, i gspüre ämel ä kei Besserig“. Ich wurde über und über rot und gestand zögernd , den Auftrag nur halb ausgeführt zu haben, glaubte ich doch, der liebe Grossvater sehe mir bis ins Herz hinein. Beschämt ging ich abermals den steilen Kirchenweg hinauf, diesmal aber in die Kirche hinein und betete ganz andächtig fünf Vaterunser.
Endlich war der Grossvater mit mir zufrieden, reichte mir die 7 Batzen mit den Worten: „Dass sell dr für diner Läbtig e Lehr sy, ass de en Uftrag, wo me dr git s’erstmol scho rächt und ganz sellsch usfüehre“.
An dem Ball mit dem Schweizerkreuz hatte ich viel mehr Freude, weil er redlich verdient war.
Diese Geschichte spielte sich um 1910 ab.
2. Pfarrer Büttler und Adolf Erzer
Aus dem Pferdepöstli, das damals noch von Grellingen nach Bretzwil fuhr, stiegen vor dem «Rössli» in Seewen zwei Fahrgäste aus. Es war der alte Pfarrer Büttler und Adolf Erzer, welcher in der ganzen Gegend bis nach Basel unter dem Namen «Chutz» bekannt war. – Pfarrer Büttler, als Bauernjunge aufgewachsen, war etwas derb in seiner Art. Wer ihn noch gekannt hat und predigen gehört hat, weiss, dass er auf der Kanzlei gehörig drauflosdonnern konnte, wenn es ihm ernst war. Unter seiner rauhen Schale verbarg sich aber ein äusserst gutes Herz. Er und seine Schwester Bertha haben oft gehungert, um dadurch einem Armen besser ein Almosen geben zu können. Jedes Bälleli Butter, das ins Pfarrhaus gebracht wurde, wanderte sogleich wieder zu einer armen Kindbetterin. Das versicherte uns die Pfarrköchin, als sie einmal bei uns auf Besuch war. Meine Mutter schenkte ihr eine Büchse Bienenhonig für den Herrn Pfarrer, worauf sie sagte: »Das ist doch viel z’tüür für euis, der Brueder schickt mi sicher wieder mit zu mene arme Chranke».
Es drängt mich auch den anderen Reisegefährten zu beschreiben. Adolf Erzer war im «Rössli» ein gerngesehener Gast. Nach der Trennung mit seiner Familie übertrug er seine Liebe zum Teil auf uns Kinder. Im Grunde war er gut und hat uns Kinder manche Freude gemacht. So erinnere ich mich an eine lustige Schlittenpartie nach Zwingen, sowie einen Ausflug nach Basel, wo er mein Bruder Hans und mich in einen Kino steckte, bis er seine Geschäfte erledigt hatte. Das war für uns ein Erlebenis. Wir sahen damals zum ersten Male ein Kinostück. Nach etwa zwei Stunden bekamen wir es mit der Angst zu tun, Herr Erzer habe uns vergessen, es sei draussen sicher Nacht geworden. Als wir aus dem dunklen Kino ins Freie traten, war noch heller Sonnenschein. Erleichtert atmeten wir auf, als unser Begleiter vor dem Eingang auf uns wartete.
Mein Bruder Hans hatte mit «Chutz» viele schöne Jagderlebnisse, die zu seinen köstlichsten Jugenderinnerungen zählen.
Mag man «Chutz» auch diese oder jene Schwäche nachsagen, eines hatte er halt doch, und das ist die Hauptsache: ein gutes Herz.
Beim Aussteigen aus dem Postwagen lud Herr Erzer seinen Reisegefährten ein, mit ihm ein Gläschen Wein zu trinken, was dankend vom Herrn Pfarrer angenommen wurde. Zuerst sass man gemütlich im «Rössli» beisammen und besprach allerlei. Nach und nach stieg den Beiden die vom argen Rütteln des Postwagens einen nüchternen Magen bekommen haben, der Wein etwas in den Kopf. Man kam auch auf die Religion zu sprechen. Als nun «Chutz» etwas erwiderte, was den Pfarrherrn beleidigte, wurde dieser zornig. Er klopfte mit seiner derben Faust auf den Tisch, dass die Gläser klirrten, stand auf und jagte seinen Gegner in die Küche.
Als kurz darauf die Jagd aufging, schoss Adolf Erzer am ersten Tag schon einen prächtigen, grossen Hasen. Er brachte ihn ins Rössli und befahl mir, denselben in einen Kratten zu packen, um ihn dem Pfarrer zu bringen. Dieser öffnete mir selbst die Pfarrhaustüre und war nicht wenig erstaunt, als ich ihm den Korb mit folgenden Worten übergab: «E schöne Gruess vom «Chutz» und do schick er ech öppis als Entschädigung für dä Chrach wo n er im Rössli mit Ech gha heig». Die Augen des guten Pfarrers wurden feucht vor Freude und ich spürte deutlich, dass er dem reuigen Sünder im Herzen längst verziehen hatte.
3. Dr Bannwart vo Himmelried
Für uns Kinder
4. Ein lustiger Streich
5. Ein zweier Weisswein und eine Ohrfeige
6. Der für die Kinder von Seewen wohlgesonnene Wohlgemuth
7. Der Dilldapp
8. Mit der Kutsche an die Expo
SB 1965. Seite 90
9. Mobilmachung in Seewen 1914
Um die weitverzweigte Kundschaft der Tierarztpraxis besser bewältigen zu können, kaufte mein Vater anno 1914 von einem Verwandten im Jura ein Auto, Marke «Martini», dunkelrot, mit aufklappbarem Zweiersitz hinten. Soviel ich mich erinnern kann, erreichte man mit dem Wagen höchstens eine Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern. Wenn ihm etwas fehlte, musste Papa von Pruntrut einen Automechaniker kommen lassen, der das Vehikel kannte, denn weit und breit war keine Garage vorhanden. Mein Vater selbst verstand nicht viel von Technik. Der Motor musste vorn von Hand angekurbelt werden. Falls mein Vater nachts einmal gerufen wurde, so machte die Maschine , wenn sie endlich ansprang, einen Höllenlärm, so dass das halbe Dorf erwachte.
Der erste Weltkrieg war ausgebrochen, seine Wirren spürte man auch in der Schweiz. Generalmobilmachung stand bevor. Mein Vater erhielt eine Depeche: «Sie haben sich in der Kaserne Basel morgens um 8 Uhr zu stellen, zur Einschätzung der Pferde». Ankunftszeit des Telegrammes in Seewen war 8 Uhr. Es war nämlich in Basel schon am Tag vorher aufgegeben worden.
Wir waren ratlos, denn seit morgens 6 Uhr war Papa schon unterwegs auf der Praxis nach verschiedenen abgelegenen Höfen im Passwanggebiet. Auf Telephonverbindungen musste man 2-3 Stunden warten, zudem hatten die meisten Höfe noch keinen Anschluss. Als wir endlich das «Neuhüsli» bekamen, hiess es, der Doktor sei vor ein paar Stunden da gewesen, aber wo man ihn jetzt erreichen könne, wisse man nicht. So verging der Tag.
Unterdessen bemühte sich die ganze Familie, Vaters Uniform und Militäreffekten bereitzulegen. Nur eines fehlte: der Säbel. Wir durchstöberten das ganze Haus. Auf einmal kam es Mutter in den Sinn, dass er ihn seinem Bruder in Reigoldswil geliehen hatte. Sogleich wurde ein Pferd angeschirrt. Mein Bruder fuhr dorthin mit dem «Zweiräder», um den Säbel zu holen.
Es wurde langsam Nacht, aber der Vater war noch nicht heim gekommen. In irgend einem abgelegenen Krachen hatte er eine Panne. Um Hilfe zu holen, musste er weit gehen.
Daheim bangten alle um Ihn. Zwei Dorfburschen anerboten sich, mit ihren Velos gegen Bretzwi – Nunningen zu fahren, um Nachschau zu halten. Nach kurzer Zeit kehrten sie zurück mit dem Bericht: «Sie bringe-n-en jetzt denn grad uf eme Brütschiwage!» Unsere Mutter war zu Tode erschrocken und wir Kinder fingen an zu schreien. Sogleich trösteten uns die Burschen: »Schwieget doch, es isch am Pape nüt passiert, nume der Motor isch kaputt!»
Es gab also keine Möglichkeit, noch an diesem Abend nach Basel zu gelangen. Kein anderes Auto befand sich im Dorf.
Am nächsten Morgen früh musste Papa mit der Pferdepost nach Grellingen und von dort per Bahn nach Bael fahren, wo man ihm angesichts der schwierigen Verhältnisse für seine Verspätung Verständnis entgegenbrachte.
Publiziert im SB 1972, Seite 106, digitalisiert von Hubert Gehrig
10. Tapferkeit (Grenzbesetzung 1914/18)
Während der Grenzbesetzung 1914/18 gab es auch sehr mutige Schweizersoldaten, wie nachstehendes Ereignis beweist: Eine Feldbatterie sprengte über den Waldweg in der «Zollfiechte» Richtung Hochwald. Die tiefen «Geleise» waren mit groben Steinen ausgefüllt, sodass die Geschütze stark holperten. Einem Kanonier, der auf dem Trittbertt der Kanone stand, verfing sich dabei der Fuss in den Speichen des Rades. Unter Aufbietung all seiner Kräfte fasste er sofort mit der einen Hand das Rad und hielt es fest, bis die Batterie in Stellung war, im «Wehnstel», wo die Schiessübung abgehalten wurde. Die Kameraden legten den Verunglückten auf eine Bahre unter einem blühendenen Apfelbaum, ihm erste Hilfe leistend. Der Fuss war ihm abgedreht worden. Trotz unsäglichen Schmerzen bat er sie, ihn noch nicht abzutransportieren, er möchte noch gerne zusehen, wie seine Batterie schiesse. Erst nachher trugen ihn die Soldaten nach Seewen hinunter, wo er vom Spitalauto aus Liestal abgeholt wurde.
SB 1972, Seite 106 und SB 1980 Seite 82
11. Unsere Schulreise vor mehr als 50 Jahren
Im Mai 1966 fanden wir uns zur zweiten Klassenzusammenkunft in Seewen ein. Auf dem Dorfplatz war freudige Begrüssung der Jahrgänge 1903, 1904 und 1905. Nur einer unserer Kameraden war seit dem ersten Treffen vor drei Jahren gestorben.
Eine Fahrt ins Blaue führte führt uns durch das idyllische Baselbieterländli nach der Froburg. Friedlich lagen die schmucken Dörfer da, umgeben von Wald und Wiesen in schönster Frühlingspracht. Goegraphiekundig erklärte uns Kamerad Leo Hersperger die Gegend, mit den bewaldeten Hügeln von drei Kantonen: Baselland, Solothurn und Aargau. Dort unten lag Olten mit dem Sälischlössli. Dieses war vor mehr als 50 Jahren das Ziel unserer ersten Schulreise gewesen. Bei seinem Anblick tönte es von allen Seiten: «Weisst du noch . . weisst du noch?»
Damals, an einem strahlenden Sommermorgen, brachten bekränzte und blumengeschmückte Leiterwagen die Seewener Schüler nach Liestal. Voll Freude und klopfenden Herzens Warteten wir auf den Zug. Sobald das «Dampfross» heranbrauste, ging ein Schreien los. Mehrere Kinder, die noch nie eine Eisenbahn gesehen hatten, fürchteten sich davor. Eines musste man buchstäblich mit Gewalt hineinschleppen. Erst als das schwarze Ding zu fahren begann, fing es an, auch diesem Kind zu gefallen. Mit fröhlichem Gesang gaben wir unserem Wonnegefühl Ausdruck. Plötzlich wurde das Licht angeknipst, und der Zug sauste in ein langes, dunkles Loch, den 8134 Meter langen Hauensteintunnel. Es gab wieder ein Kreischen und ängstliche Gesichter. Nach einigen Minuten wurde es wieder Tag, und wir glaubten, die Sonne scheine nun doppelt so hell wie vorher.
In Olten trafen wir die Oberschüler, die den Hauenstein zu Fuss überquert hatten. Frohgemut stiegen wir miteinander hinauf zum Sälischlössli, das uns grossen Eindruck machte. Ein wirkliches Schloss! So etwas kannten wir sonst nur aus Märchen. Nachdem wir die herrliche Rundsicht über das schöne Land genossen und bestaunt hatten, wurde uns beim Abstieg in einer kühlen Gartenwirtschaft das Mittagessen serviert. Es gab Spaghetti mit so etwas «Rotem» dran, das die meisten Kinder vom Lande damals nicht kannten. Schon rümpften viele die Nase. Als dann noch jemand bemerkte, es sei Schneckenblut, war es mit ihrem Appetit vorbei. Der welschen Léonie und mir schmeckte aber das Gericht vortrefflich. Von allen Seiten schoben uns die andern Platten und Teller zu. Wir taten uns gütlich daran, bis wir mehr als satt waren, während viele Kinder mit halbleerem Magen die Tische verliessen. Ich selber kannte Spaghetti mit Tomaten seit meiner Kindheit. Anno 1909. als Herr Menini aus Nunningen in Seewen unser Haus baute, arbeiteten daran zwei Italiener, die fast jeden Tag Maccaroni oder Spaghetti kochten. Beide waren Familienväter und hatten ihr helle Freude an dem kleinen Mädchen, das ihnen mit glustigen Augen dabei zusah. Oft hiessen sie mich Teller und Gabel holen, um mit ihnen zu essen. Wenn die Kochmethode auch primitiv und manchmal nicht so hygienisch war, so denke ich doch heute noch gerne daran, wie köstlich mir damals ihre Tomatenspaghetti gemundet haben!
Was wir am Schulreisetag noch alles unternahmen, habe ich vergessen. Das mit dem Schneckenblut aber und die fröhliche Fahrt auf dem Leiterwagen ist mir und den meisten meiner Kameraden in bester Erinnerung geblieben.
Erschienen im Schwarzbubenkalender 1967, Seite 62
Die Geschichten 1- 6 stammen aus dem Schwarzbubenkalender 1946 «Heiteres aus dem Dorneckberg», Seiten 60-64